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Das Buch der Phantastischen Wesen
darin enthalten allerley Gethier und lebend Wesen so von menschlich Phantasterey
ersonnen ab origine mundi bis zum Jüngsten Tage das Erdenrund zu bevölkern
Von diversen Scriptores berichtet
und im Volksglauben überliefert Compilieret von
Julius Georg Friebe Custos Musei Naturalis Vorarlbergensis zu Dornbirn |
Viel wunderlich Gethier tummlet sich auf Erden, dessen wohl erstaunlichst, wenngleich auch
grausamst Vertreter der Mensch selbsten ist. Noch viel wunderlicher ist das Gethier, das gelebt
in grauer Vorzeit und als Petrefactes auf uns gekommen. Die wunderlichst Wesen aber seynd,
die vom Menschen ersonnen, gesehen in Stunden der Phantasterey, im Suffe, oder aber
offenbart im Traum. Der Bestiaria sind viele. Klassisch Wesen, sunderlich solch der Griechen
und Römer, seynd hier nicht erwähnet. Sie seynd anderwärtig beschrieben und
abconterfeyet. Ander Fabelthier, die entweder übersehen, oder aber neu erträumet, seynd
in originären Descriptiones aufgelistet.
Die Acephalos
Antike Scriptores, so auch Herodotus, Pomponius Mela und Plinius, berichten des ofteren
über Menschen, welche die absonderlichsten Mißbildungen aufweisen. Diese Descriptiones
wurden lange Zeit tradieret. Ihre Protagonisten seynd immer in exotischen Gegenden
angesiedelt. Im 18. Jahrhundert kamen Zweifel an der Existenz solcherart gestalteter
Menschen auf.
Es haben die Alten auch gar viel setzame Monstra erdichtet / die in diesem Land
[= India] solten erfunden werden / sonderlich als Megasthanes und Solinus
schreiben / daß in den Indianischen Bergen Menschen seynd / die haben Hundsköpff und Mäuler
wie die Hund / darumb sie auch nit reden können / sondern bellen und heulen wie die Hund.
Darnach seynd welche die haben nicht mehr dann einen Fuß / mit dem hupffen sie so schnell /
daß ihnen kein zweyfüssiger mag zulauffen / und wann sie die Sonn mit großer Hitz brennet /
legen sie sich auff den Rucken und machen ihnen selbst mit ihren Fuß ein Schatten.
[ PRENNER, 1674 ]
Unter diesen viel wunderlich Geschöpfen seynd die Acephalos, die Kopflosen, denen
kein Kopf auf den Schultern sitzet, und welche ihr Antlitz auf der Brust tragen. Sie seynd
in India und China, desgleiche auch im neu=entdeckten America beheimatet.
Man darf eben nicht glauben, daß diese Völker ganz und gar keine Köpfe haben, sondern es sind
dieselben nur ungemein niedergedruckt, dergestalt, daß sie beinahe mit den Schultern
schnurgleich, und von den Haaren gänzlich bedecket sind. Dieses kan durch die Kunst zuwege
gebracht werden; indem man die Köpfe in der zartesten Kindheit zwänget, so wie es heutigen
Tages viele americanische Völker an ihren Kindern thun, denen sie, sobald sie zur Welt
kommen, Stirne, Schläfe und Nasen ganz plat machen; [...]
Es kan aber auch dieses ganz natürlich, vermöge der Einbildungskraft der Mütter geschehen,
welche in niedergedruckten Köpfen eine Schönheit werden gefunden haben. Man weis ja aus
vielfältigen unangenehmen Beispielen, wie sehr die Einbildung der Mütter auf ihre
Leibesfrucht wirke. [...]
Und dasselbe mus nicht weniger Ursache gewesen seyn, welche die Köpfe der Acephaler mit den
beiden Schultern flach gebildet hat. Und in Warheit, diejenigen Völker, die ihren Kindern
die Köpfe fletschen, und diejenigen, welche ihren Töchtern die Füsse einzwängen, brauchen
um so weniger Mühe, solches zu Volkommenheit zu bringen, weil ohnedies die Kinder schon
von Natur mit Köpfen oder Füßen zu Welt kommen, die flächer und kleiner sind, als sie die
Kinder der Europäer bey ihrer Geburt haben mögen.
[ LAFITAU, 1752 ]
Andrias scheuchzeri, die Menschenechse
Wir lesen in einem fremdländischen Journale, daß der Kapitain eines britischen Kriegsschiffes,
aus fernen Ländern zurückgekehrt, über eigenthümliche Amphibia zu berichten weiß, welche
Selbigem auf einer der kleinen Inseln des Australischen Meeres begegnet seyen. Auf jener
Insel nehmlich befinde sich ein Salzwassersee, der indeß nicht mit dem Meere kommuniciere
und außer dem nur unter maaslosen Mühsalen zugänglich sey.
Währenddessen der Kapitain und der Feldscheer besagten Schiffes am Ufer der Ruhe pflegten,
entstiegen dem See echsengleiche, hingegen wie Menschen auf zwey Beinen gehende Thiere,
welche etwa die Größe von Seehunden hatten, und sich am Strande auf das drolligste, in
fast scuriler Weise, ergötzten, als exekutireten sie einen Tanz. Der Kapitain und der
Feldscheer tödteten mit ihren Flinten zwey der selben, welchen, nach derer Mittheilung,
eine schlüpfrige Haut ohne Fell oder jegliche Schuppen karakteristisch ist, worin sie den
Salamandern gleichen. [...] Nach dem Zeugnis des Kapitains und des Wundarztes handle es sich
um sehr eigenthümliche und listige Thiere, welche auf zwey Beinen gehen und sonderbar
bellen und schnalzen, ohne indeß dem Menschen gefährlich zu seyn. Wir dürfen sie dießwegen
wohl mit Recht Menschenechsen benennen.
[...]
Ja, Teufel seien dort. Wieviel? Tausende und Tausende. Sie sind ungefähr so groß wie
ein zehnjähriges Kind, Herr, und beinahe schwarz. Sie schwimmen im Wasser, aber auf dem
Grund gehen sie auf zwei Beinen, Sahib, wie Sie oder ich, nur wiegen sie dabei den Körper,
hin und her, immer hin und her ... Ja, Herr, sie haben auch Hände, wie Menschen. Nein,
Krallen haben sie nicht, es sind eher Kinderhände. Nein Sahib, sie haben keine Hörner und
auch keine Schuppen. Ja, einen Schwanz haben sie, so eine Art Fischschwanz, aber ohne
Schwanzflosse. Und einen großen Kopf, rund, wie die Bataks. Nein, gesagt haben sie nichts,
Herr, nur so etwas wie geschnalzt. [...]
Als wir die Skelette der getöteten Tiere präparierten, gelangten wir zu einer höchst
interessanten Feststellung; nämlich daß das Skelett dieses Molches fast vollkommen mit dem
fossilen Abdruck des Molchskelettes übereinstimmt, welches Dr. JOHANNES JAKOB SCHEUCHZER auf
einer Steinplatte aus den Öninger Steinbrüchen fand und in seiner Abhandlung "Homo diluvii
testis", herausgegeben im Jahre 1726, abgebildet hat. Für weniger bewanderte Leser sei
bemerkt, daß besagter Dr. SCHEUCHZER dieses Fossil für Überreste des vorsintflutlichen
Menschen hielt.
[ CAPEK, 1936 ]
Fliegende Köpfe, Fliegende Masken:
menschliche Schmetterlinge
»Was ist denn das ? !« - : »Das ? : Fliegende Köpfe.« / : Das also
die rätselhafte ‹ Dritte Form › von gestern ! Hexapodie ebenfalls, ja : aber
über Schmetterlinge ! (Das muß aber auch ein deutsches Rindvieh gewesen sein, das für die
paar Kleingaukler den Hammervorschlag < Schmetter > erfinden konnte! Wahrscheinlich n
Wiederaufrüster.) [...]
Und ich, mit dem Enthaupteten in der Hand, (oder präziser : Entrumpftem. Jedenfalls ein
unbestreitbares Menschenantlitz. Und so leicht auf der Hand!)
»Náddu ? !« : - Es verdrehte angstvoll die Augen. Blökte fein und süß (und brachte
dabei eine handlange Hohlzunge heraus: »Ööhh ...«). / Lautlosgroße Falterschwingen.
An den äußersten Spitzen einkrallige Haken (zum Einhängen an dünnen Ästen ? Nachts, zum
Schlafen ?). Auch unterm Kinn noch zwei kurze Sitzfüßchen : so hatte's uns vorhin neugierig
von seinem Zweig angesehen.
Die Voliere : »Nein. Wir nennen sie ‹ Fliegende Masken › : es gibt
nämlich da gewisse festbleibende Typenkreise.« (Unterschieden nach Männchen und
Weibchen; von den ersteren rund ein Dutzend ‹ Gesichtsausdrücke ›; von den
letzteren wesentlich mehr : »Das werden wir sicher durch Züchtung noch nach unseren
Wünschen variieren & fixieren können - hinsichtlich Haarschnitt, Schönheit der
Weibchenunddergleichen : Stimme zumal ! : manche Sorten geben, in kleinen Käfichten gehalten,
bereits eine Art Gesang von sich; tjaaa.« [...]
Und die Kittelassitentin erklärte und demonstrierte fließend : Hier in der Sukkulente -
(»Sie müssen ganz genau gegen's Licht sehen !«) - erkannte ich kauernd einen
stillen dunklen Kern. »Ja ganz recht.« / Hier die Schirmbildaufnahme. /
»Und so sehen sie in natura aus.« (‹ in natura › war gut; sie
meinte ‹ in spiritus ›; berufsbedingte partielle Seelenlosigkeit). - Länge
und Dicke wie'ne gute Gurke. Totweiß : Folge des Lebens in Pflanzen - und was das wieder
für eine Art ‹ Innenleben > für das befallene Exemplar sein mochte, schlimmer wie'n
Bandwurm ! - Nur an den Tracheenmündungen dunkelgefleckt. Mit bleichem Embryonengesicht;
eine durchscheinende Haut überzog die Augäpfel : übler Sauger ! / »So lebt diese
Form 2 Jahre in Fettpflanzen - die einzigen, die ihnen ausreichend Herberge gewähren
können. - Bitte ? - : Nein; die Wirtspflanze stirbt gar nicht ab ! Meist bildet sich an
der betreffenden Stelle eine Entasis. Oder auch eine Sackgeschwulst : nein.« /
»Die Eier ? : werden, genau wie bei den Insekten, durch die Paarung der Flugform
erzeugt. Und vermittelst eines rasch entstehenden und wieder vergehenden Legestachels
mitten in den Pflanzenleib eingeführt.« (Wo dann eben die ‹ entsprechende
Entwicklung › begann).
[ SCHMIDT, 1957 ]
Die Kranich-Menschen
Unter all den Kreutzungen von Mensch und Thier sey auch diese wunderliche, wenngleich
unbekannt Species erwähnet, wohnhafft im Lande zu Grippîâ:
Dô sie ein wîle heten gestân, die vil ellenthaften man, und allenthalben sâhen, dô wurdens
in allen gâhen vor dem burctor gewar einer seltsaenen schar von mannen und von wîben. die
wâren an ir lîben, sie waeren junc oder alt, schoene unde wol gestalt an füezen und an
henden und in allen enden schoene liute und hêrlîch, wan hals und houbet was gelîch als
den kranichen getân. [...]
an ir lîbe nieman vant zer werlt deheiner slahte kranc, wan daz in die helse wâren lanc,
ritterlîch übr al den lîp. beide man unde wip wâren alle alsô gestalt. sie fourten kraft und
gewalt. Ihr König aber war andrer Gestalt: als ein swan was im gestalt der hals und ouch daz
houbet. daz wizzet und geloubet, ez was der künic von Grippîâ.
Dies Volck hatt die Tochter des Königs von India geraubet, zur Hochzit mit ihrem Kunige,
welche sie aber mit Schnabelhieben tödteten, nachdemen der Herzog Ernst, welcher die
schöne Princessin befreien wollt, entdecket ward. Herzog Ernst richtet ein furchterbar
Gemetzel an unter ihnen, entkam aber selbst nur mit Mühen.
[ aus: Herzog Ernst [um 1210/20] ]
Die Never=nevers: menschliche Spinnen
Also die Never=nevers : das waren Riesenspinnen ! Der weiche, giftig=graue Leib etwa einen
halben Yard im Durchmesser. Vorn dran ein Menschenkopf (mit allen möglichen neuen
Knopforganen : Punktaugen zum Beispiel, dafür waren die Ohren entfallen); mit Saugrüssel.
An zwei Vorderfüßen Giftklauen; und so stark war die Doppelladung, daß zwei genügten, um
den stärksten Zentauren zu betäuben. Viere töteten !
Hier, die, war schon fertig !: Grau also. Und fett. Und mit dünner biegsamer Hornhaut umhüllt.
Die Skorpionmenschen. Vorn dran ein fatales Europäergesicht : die Augen klein; senkrecht weg
lange Tasthaare; alles für nächtlich=parzisches Leben spezialisiert. Der Mund rüsselspitzbar,
ideal zum Totsaugen. An den Vorderstelzen die Giftklauen, fingerlang und gebogen wie
Bussardschnäbel : widerlich !
[ SCHMIDT, 1957 ]
Das Tiefseemonster
Unten, in der lichtlosen Tiefe der Weltmeere, haust ein rätselhaftes Geschöpf. Kein Tier,
keine Pflanze. Die Forscher wissen nur: Eines Tages könnte Es alle Meere ausfüllen.
Sein Steckbrief: Es schwebt frei. Es kann seine Größe innerhalb von Sekundenbruchteilen
verhundertfachen. Es besteht aus unendlich vielen Unterorganismen. In einem Teelöffel Wasser
fanden die Forscher manchmal 1500 von ihnen, dann wieder 175 000, blitzschnell wird Es
wieder ganz klein. Es läßt sich nicht fassen, aber Es ist ein Killer, wie er noch nie in den
Meeren trieb. Es tötet Fische, zersetzt oft ganze Schwärme, Millionen Fische. In der
Chesapeake-Bay hat Es die Krabben vernichtet - wenige Kilometer entfernt baden
ahnungslose Urlauber im Atlantik. JoAnn Burkholder, eine Algen-Spezialistin: "Wir glauben,
Es hat 15 Leben, vielleicht noch sechs mehr. Wir wissen es noch nicht." Es hat noch keinen
ofiziellen Namen. Die Wissenschaftler nennen Es "Dino" - das griechische Wort für "Grauen".
Wo kommt das Grauen her? Es entsteht wahrscheinlich durch sogenannte "Fotosynthese" - aus
Licht und Sauerstoff. Ursache: die zunehmende Umweltverschmutzung.
[ BILD-Zeitung, 1993 ]
Thalia: Eine Zentaurin
Das also war eine Zentaurin ! : und ich durfte mehrfach um sie herum gehen, die mir amüsiert
und pomadig zusah. - :
Eine wunderbare weißblonde Stehmähne, die über der Stirn in einem kecken Schopf begann,
beliebig nach vorn oder hinten zu tragen : weiter zwischen der süßen Genickfurche, zwischen
den Schulterblättern herunter; handhoch das Rückgrat entlang; bis sie schließlich in den
schwarz bequasteten Schwanz überging.
Hinten etwa wie eine Grant=Gazelle : ganz kurzhaariges straffes Fell; auf dem Rücken und an
der Außenseite der Schenkel von einem hellen rötlichen Braun. Bauch und Beininnenseiten
weiß : 4 schlanke Beine.
Und vorne dran eben ein nacktes Mädchen; mit Armen ! - Ich stand jetzt vor ihr, und sie
legte den schmalen hohen Kopf schief, und lachte mich an : ? / Die Nase : mit breitem Rücken
solid an der Stirn der Stirn befestigt. Ein langer roter Mund. Hals. Elfenbeinerne Schultern,
ganz glatte. Backfischbrüstchen. Schmales Gehüft. Lange Mädchenbeine (nur Hufe dran :
ungefähr, wie wenn ein moderner Damenschuh unten angewachsen wäre).
Zurück zum Gesicht (halt : große, spitzige, braunsamtne Ohren hatte sie noch; bewegliche,
gegen den Wind zu verstellende). (Ungefähr 5,5 groß : paßt). / Sie lächelte geduldig; und
schlau. Umfuhr auch einmal die Lippen mit der Zunge : die war bedeutend größer als meine;
daher wohl die schwerere Sprechweise !).
[ SCHMIDT, 1957 ]
Die Zitate stammen aus:
- Mask, covered with feathers, representing the god of war. Hawaiian Islands. British
Museum. - Postkarte No. 114, British Museum (Ethnographical Gallery) / Oxford
University Press. [Bildzitat]
- CAPEK, K. (1936): Der Krieg mit den Molchen (Válka s mloky). -Aus d. Tschech. von E.
GLASEROVA. - detebe-Klassiker Bd. 20805, 330 S., Zürich (Diogenes), 1981.
- Herzog Ernst (Fassung B, um 1210/20). - Auszüge in: CUSCHMANN, M. & GLIER, I. (Hrsg.)
(1980): Deutsche Dichtung des Mittelalters. Band I: Von den Anfängen bis zum Hohen
Mittelalter. - Fischer Taschenbuch Bd. 5488, 807 S., Frankfurt a/M., 1987.
- LAFITAU, J.-F. (1752/3): Die Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den
Sitten der Frühzeit. - Aus dem Französischen übersetzt von J. F. SCHRÖTER, herausgegeben
von S.J. BAUMGARTEN; 504 S., Halle (Johann Justinus Gebauer). - Reprint 1987, Leipzig
(Edition Leipzig). Ausgabe für Acta Humaniora, VCH, Weinheim.
- N.N. (1993): Das Tiefseemonster. - BILD-Zeitung [die mir zur Verfügung stehende Kopie
trägt kein Datum]
- PRENNER, M.S. (1674): Das Groß Planeten Buch / Samt der Geomanci / Physiognomi und
Chyromanci [...]. - 330 & 36 S., Straßburg.
- SCHMIDT, A. (1957): Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten. - Fischer
Taschenbuch Bd. 9126, 199 S., Frankfurt a/M., 9. Aufl., 1991.
© 1999 J. Georg Friebe
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